Begegnung mit der Kindheit

von Margit Ramus

Ein Spalier mächtiger alter Kastanienbäume ließ nur wenig Sicht durch ihre dichten Kronen.

Ein alter Mann stand auf dem Balkon seiner Dachwohnung und schaute mit mürrischen Miene und verkniffenen Augen, zum Rheinufer hinunter. Dort unten hatten vor ein paar Tagen, Schausteller ihre Karussells und Buden aufgebaut. Missmutig hatte er beobachtet, dass die Kirmesleute mit ihren schweren Traktoren und großen Wagen über die schöne Wiese fuhren.

Die laute Musik ärgerte ihn ebenfalls. Zu seiner Kinderzeit war das alles ganz anders.

Zum Glück war nun endlich Ruhe eingekehrt. Die Karussells waren geschlossen und die Lichter erloschen. Die Stille der Nacht hielt ihren gewohnten Einzug.

Seine Familie, die im selben Haus wohnte, schlief bereits, er aber hatte keine Ruhe finden können. Er war ein wenig unleidlich und griesgrämlich geworden. Er ärgerte sich schon einige Tage, dass da unten die Leute seine Ruhe störten und in die Wiese tiefe Fahrspuren hinterlassen würden.

Plötzlich überkam ihn die Idee, sich den Schaden einmal näher zu betrachten.

Ganz leise verließ er seine Wohnung und schlich auf Pantoffeln, seinen Krückstock unter dem Arm haltend, die Treppe hinunter. Er überquerte so eilig wie es ihm möglich war, sich nach allen Seiten umdrehend, die Straße.

Es herrschte gespenstische Stille, ein Hauch von Kälte umgab den alten Mann. Es war bereits Mitternacht vorbei. Der Mond leuchtete nur schwach durch die tiefstehende Wolkenbank am nächtlich dunklen Himmel und spiegelte sich im trüben Wasser des Flusses.

Der Mann blieb keuchend am Eingang des Festplatzes stehen und musste verschnaufen.

Plötzlich fühlte er sich wie ein kleiner Junge, der ein verbotenes Abenteuer erlebte. Erst zögernd, dann langsam mit geräuschlosen Schritten, ging der weißhaarige alte Mann weiter über den weichen Wiesenweg.

Der betäubende Duft von Mandeln und Zuckeräpfeln hing in der Luft und wurde vom Wind weitergetragen. Er zog den Geruch tief ein und seine sonst so grimmigen Gesichtszüge wurden mit einem Male weich und freundlich.

„Was war denn das für ein modernes Ding? — Ein Karussell, in dem man in die Lüfte schwingen konnte.“

Seine alten Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und er entdeckte prächtige Farben und glitzernde bunte Bilder, an den Autoskootern. Eine Bude mit Zuckerwatte und süßem Pop Corn fand er zu seiner Rechten.

„Da gab’s bestimmt auch Mohrenköpfe“, dachte er sehnsüchtig, „die hatte er als kleiner Knirps immer so gerne gegessen.“

Sodann stieg ihm der Duft von frischem Heu und von Pferden in die Nase. „Sieh mal an, eine Reitbahn. So etwas gibt’s tatsächlich heute auch noch.“ Er hatte oft die Pferde bürsten dürfen oder geholfen, den Stall auszumisten. Mutter hatte fürchterlich geschimpft und gemeinte, dass er röche, als sei er selbst in Pferdemist gefallen. Aber das hatte ihm nichts ausgemacht. Er konnte sich sogar erinnern, als Lohn für seine Müh‘, durfte er auf der Schiffschaukel ohne Geld schaukeln.

„Ach ja, die liebe gute alte Schiffschaukel“,  er seufzte leise vor sich hin. Damals kostete eine Fahrt fünf Pfennige. Das war für ihn und seine Freunde viel Geld gewesen. Sie hatten wochenlang gespart und gearbeitet, damit sie zum Festbeginn `ne Mark zusammen hatten.

„Ja, ja, und heute…“

Sein Blick streifte eine Losbude. Große Leuchtbuchstaben glitzerten ihm entgegen. „Oh! Eine Teddybär Verlosung!“ Mutter hatte vor vielen vielen Jahren einen solchen Teddy gewonnen. Da er aber viele Geschwister hatte, durften sie ihn immer nur abwechselnd mit ins Bett nehmen. Wie gerne hätte er einen eigenen Teddy gehabt.

Ganz alleine stand der alte Mann in der dunklen Nacht und hing seinen Erinnerungen nach. Plötzlich bemerkte er die Kälte, die in seine alten Knochen kroch, und er machte sich mit schlurfenden Schritten auf den Heimweg.

Plötzlich hielt er inne…

Es war doch noch nicht zu spät.

Morgen, — ja morgen würde er mit seinen Enkelkindern wiederkommen. Sie sollten auf allen Karussells fahren, Autoskooter steuern, Zuckerwatte, Mohrenköpfe und Pop-Corn essen und so viel Lose kaufen, wie er damals, vor so vielen Jahren, gerne gekauft hätte.

Ihm war eben eingefallen, wenn ein kleiner Junge Träume hatte, sollte er sie nie vergessen, irgendwann kommt der Zeitpunkt, da werden sie wahr, vielleicht nicht bei ihm selbst, vielleicht aber bei seinen Kindern oder bei seinen Enkelkindern.

Denn wenn ein Mensch sich von seinen Träumen und Illusionen trennt, hört er auf zu leben.