Promotion mit 62 Jahren

SPIEGEL ONLINE                 4.  Januar 2014, 07:22 Uhr

Von Armin Himmelrath

Eine Tüte Mandeln bitte, Frau Doktor

Auf der Kirmes braucht man kein Abitur – und so war für Margit Ramus mit 14 Jahren die Schule vorbei. Statt zu lernen, verkaufte sie fortan gebrannte Mandeln. Das macht die 62-Jährige immer noch. Aber jetzt als promovierte Kunsthistorikerin – der einzigen in ihrem Gewerbe.

Das Schwierigste, sagt Margit Ramus, sei gewesen, ständig die verschiedenen Schubladen im Kopf zu sortieren. Wann kommt der Mandellieferant das nächste Mal vorbei? Gibt’s noch genug Plastiktütchen? Und wer ist im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Ansprechpartner für die Suche nach historischen Firmenunterlagen? „Das lief jetzt seit 2005 immer parallel“, sagt die 62-Jährige, während sie Tüten mit gebrannten Mandeln über die Theke reicht.

Die verschiedenen Schubladen gehören zu den beiden Leben, die Margit Ramus in den vergangenen Jahren geführt hat: eins als Schaustellerin, die mit ihrem Stand „Süße Lokomotive“ über Volksfeste und Jahrmärkte zieht, und eins als Kunsthistorikerin, die an ihrer Promotion arbeitet.

Dabei hatte in ihrem Leben zunächst wenig nach einer wissenschaftlichen Karriere ausgesehen: 1951 als Kind einer Schaustellerfamilie geboren und zwischen Karussells, Losbuden und anderen Volksbelustigungen aufgewachsen, war ihre Schulzeit schon mit 14 Jahren beendet: „Da holte mich mein Vater ab, und von nun an arbeitete ich im elterlichen Schaustellerbetrieb.“

Die berufliche Familientradition führte sie fort: Auch ihr Mann, den Margit Ramus 1969 heiratete, war Schausteller. Mit ihrer „Jaguar – Bahn“ zogen sie über die Volksfeste – bis 1991 der Sohn der Familie starb. Danach begann das, was Ramus „einen neuen Lebensabschnitt“ nennt: „Ich habe einen Schnitt gemacht – und bin noch einmal zur Schule gegangen.“ In drei Jahren holte die mittlerweile 46-Jährige ihr Abitur nach.

„Damit habe ich meinen Traum gelebt“, sagt Margit Ramus, „den Traum von Bildung – auch wenn es auf den Kirmesplätzen oft heißt: Ein Schausteller braucht kein Abitur.“ Und noch weniger einen Studienabschluss. Aber auch den hat sich die Kölnerin erkämpft: An der Uni Bonn studierte sie Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik. „Und weil nach der Magisterarbeit 2004 noch so viel Material übrig war, habe ich dann weitergemacht.“

Eine Reise durch 100 Jahre Dekorationsgeschichte

Ihr Forschungsthema waren die Bauformen und Dekorationen von Karussells – ein bis dahin unerforschtes Gebiet. Gerade zu Beginn habe sie häufig an der wissenschaftlichen Berechtigung für so eine Forschungsarbeit gezweifelt, erzählt Ramus: „Aber meine Professorin hat mich immer wieder ermutigt, dass ich auf einem guten Weg bin.“

Sie habe vor allem befürchtet, dass auf Volksfesten „die Kitsch-Komponente“ besonders hoch sei. War sie aber gar nicht, im Gegenteil: In Architektur und Gestaltung der Fahrgeschäfte und Buden lassen sich ganz klar die Bau- und Gestaltungstrends der jeweiligen Zeit nachweisen. „Mir selbst sind bis vor zehn Jahren gar keine Stile aufgefallen, man ist vor Ort eigentlich blind“, sagt Ramus, „aber seit ich mich mit diesem Thema beschäftige, gehe ich mit ganz anderen Augen über die Plätze.“

So waren bis zum Zweiten Weltkrieg fast alle Fahrgeschäfte mit Barock-Zitaten dekoriert: Bildtafeln, stuckartige Rahmen, Pastelltöne. „Nach 1945 setzte sich dann die Moderne durch – mit gegenstandsloser Malerei und Neonbeleuchtung.“

Seither folgen Deko und Bau dem Architektur- und Kunstbetrieb: Grelle Farben und Traummotive in Anlehnung an Salvador Dalí in den Sechzigern, Flower-Power-Bilder und Bands wie die Beatles oder Abba in den Siebzigern, danach Pop-Art, Comic-Adaptionen und Street-Art. „Das Tolle ist, dass Sie heute diese ganzen Epochen auf den Kirmesplätzen nebeneinander finden und sogar einzelne Maler und Gestalter identifizieren können“, sagt Ramus. „Da kann man eine Reise durch 100 Jahre Dekorations- und Architekturgeschichte machen.“

„Geisterbahnen wären ein ganzes Buch für sich“

Quasi nebenbei hat sie auch noch etliche Fahrgeschäfte vor dem Vergessen gerettet – durch Recherchen in Archiven und bei Schaustellerfamilien. In ihrer Doktorarbeit, die auch als Buch erschienen ist, dokumentiert Ramus die Geschichte des Karussellbaus in Deutschland seit 1883 und katalogisiert zahlreiche Fahrgeschäfte, die beispielsweise im Krieg zerstört oder längst verschrottet wurden.

„752 Seiten sind es geworden – und da musste ich schon kürzen“, sagt sie. Alle Forschungsergebnisse unterbringen konnte sie ohnehin nicht: „Das Material ist viel zu umfangreich. Achterbahnen habe ich nur am Rande erwähnt, die Geisterbahnen wären noch mal ein ganzes Buch für sich.“

Und vor allem ein Thema liegt ihr noch am Herzen: der Einsatz von Licht als Element der Volksfest-Dekoration. „Die Architektur der Nacht, das ist mein nächstes großes Projekt“, sagt sie. Nach der Promotion also die Habilitation und irgendwann die Professur? Die 62-Jährige grinst: „Wer weiß, was noch kommt.“ Aber eines ist klar: Mit ihren Mitarbeitern will sie auch weiterhin hinter der Theke ihres Verkaufswagens stehen – einem Unikat aus dem Jahr 1983, das wie eine grün glänzende Lokomotive aussieht. Sie verkauft dort wie immer ihre Mandeln, schnell, freundlich und als einzige aktive Schaustellerin Deutschlands, die gleichzeitig promovierte Kunsthistorikerin ist. Eine große Tüte bitte, Frau Doktor!


© SPIEGEL ONLINE 2014