Kulturgut Volksfest Architektur und Dekoration im Schaustellergewerbe
Von Stefan Scheer in Park & Ride Nr. 76 2014 S. 40-43
Diesmal geht es im wörtlichen Sinne um schwere Literatur. Meine Küchenwaage streckt bei mehr als 3,5 kg die Flügel, deshalb kann ich nicht genau sagen, wie schwer das 760 Seiten starke Werk von Frau Dr. phil. Margit Ramus genau ist.
Nachdem der Sohn 1991 unter tragischen Umständen verstarb, verkaufte das Ehepaar Ramus die Jaguar-Bahn und konzentrierte sich auf einen Ausschank und die Süße Lokomotive, einen einzigartig gestalteten, ebenfalls von Mack gebauten Süßwarenverkauf, den sie seit 1983 betreiben.
Im Alter von 44 Jahren kam es zum Bruch in ihrer Familie und Margit Ramus entschloss sich, noch einmal die Schulbank zu drücken und ihr Abitur nachzuholen. An einer Privatschule bereitete sie sich neben ihrer Tätigkeit als Schaustellerin drei Jahre lang auf die Reifeprüfung vor, die sie 1998 ablegte. Aber nur das Abitur war ihr nicht genug. Somit begann sie anschließend ein Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Den Abschluss des Studiums im Juni 2004 stellte die Magisterarbeit „Wie alles begann… Jahrmarkt, Fahrendes Volk und Karussells“ dar, als Buch erschienen im Komet Verlag Pirmasens. Hier wurden bereits die ersten Bauformen und Dekorationen von Karussells dargestellt. Ihre Mentorin Frau Prof. Dr. Hiltrud Kier ermutigte Frau Ramus, das Thema mit einer Doktorarbeit fortzusetzen, da für die Magisterarbeit schon in großem Umfang Material gesammelt worden war. Somit entstand nach acht Jahren weiterer Recherche die uns nun vorliegende Dissertationsschrift. Sie wurde am 18. Dezember 2013 mit einem Festakt in Köln veröffentlicht.
Acht Jahre hat es also gedauert, in intensiver Recherche all das Material zusammenzutragen, das uns jetzt in Form dieser Arbeit vorliegt. Während all dieser Zeit war Frau Dr. Ramus natürlich weiterhin als Schaustellerin tätig. Sie sichtete in Archiven und Bibliotheken in der ganzen Republik die Literatur und Unterlagen zum Thema, auf Reisen besichtigte und fotografierte sie die Objekte. Während der Forschung ergaben sich auch vollkommen neue Funde, so konnte Frau Dr. Ramus durch einen Aktenfund im Thüringischen Staatsarchiv Gotha den Beginn der deutschen Karussellproduktion
mit der Gründung der ersten Karussellmanufaktur durch Fritz Bothmann im Jahr 1883 belegen. Wertvolle Ergebnisse konnten auch noch im Historischen Archiv der Stadt Köln ausgewertet werden, bevor es 2009 einstürzte und seine Dokumente somit für lange Zeit nicht verfügbar, wenn nicht gar für immer verloren sind. Viele wichtige Informationen konnten auch im Münchner Stadtmuseum und im Markt- und Schaustellermuseum Essen gewonnen werden. Zudem führte Frau Dr. Ramus viele Gespräche mit Besitzern, Herstellern und Malern der Objekte und teilweise mit deren Nachfahren. Das Buch gliedert sich in zwei große Teile: die eigentliche kunsthistorische Betrachtung, auf die ich später eingehe, und einen mit weit über 400 Seiten sehr umfangreichen, „Katalog“ genannten Teil. Hier gibt Frau Dr. Ramus einen Überblick über fast alle Schaustellergeschäfte deutscher Hersteller. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Fahr- und Belustigungsgeschäften. Alle Reihengeschäfte aufzuführen hätte den Rahmen selbst dieser umfangreichenDr. Ramus bereitet gebrannte Mandeln Alle Bilder dieser Seite von Dr. Ramus Dr. Ramus bereitet gebrannte Mandeln Alle Bilder dieser Seite von Dr. Ramus
Überreichung der Urkunde durch Frau Prof. Hiltrud Kier Überreichung der Urkunde durch Frau Prof. Hiltrud Kier
Arbeit gesprengt und sie werden deshalb nur exemplarisch behandelt. Der Katalog ist zeitlich gegliedert. Die Jahre von 1883 bis zum Ende des zweiten Weltkrieges bilden das erste Kapitel, die Zeit danach wird jeweils mit einem Kapitel pro Jahrzehnt behandelt. Der Katalog hat 96 Beiträge, die jeweils die Bauform eines Geschäfts mindestens anhand seiner Erstausführung beschreiben. Zusätzlich werden in vielen Beiträgen weitere Ausführungen von Fahrgeschäftsmodellen betrachtet. Es wurden alle nachweisbaren Daten und Fakten zu Baujahr, Architektur, Dekorationsstil, Hersteller und Maler gesammelt und für die Beiträge in entsprechende Abschnitte gegliedert. Der Leser erhält somit erstmals ein umfassendes Nachschlagewerk über die in Deutschland seit 1883 gebauten Kirmesgeschäfte. Neben dem hier zu findenden Wissen ist es auch eine Freude, durch diesen Teil des Buches zu stöbern und dabei anhand der vielen hervorragenden Fotos und Abbildungen Geschäfte zu entdecken (oder auch wiederzuentdecken) und mehr über ihre Geschichte zu erfahren. Den Hauptteil des Buchs bilden allerdings die ersten beinahe 300 Seiten. Dieser Teil stellt die eigentliche kunst- und kulturhistorische Betrachtung und Analyse der im Katalog gesammelten Geschäfte dar, daher wird auch immer wieder von hier auf die passenden Beiträge im Katalog verwiesen. Die Kapitel behandeln nach einer Einleitung, einer grundlegenden Betrachtung des Themas und der wissenschaftlichen Aufgabenstellung und Methodik zunächst Allgemeines zur Geschichte und Durchführung der Volksfeste in Deutschland. Es folgt ein Kapitel über die unterschiedliche Architektur und Bauweise von Kirmesgeschäften und deren technische Entwicklung. Aufgeführt werden hier die verschiedenen Bauformen, Rund-, Hallen-, Skelett- und Pavillonbauten und ihr Bezug zur Architektur. Ausgehend von den Fragestellungen „Wer beschäftigte sich mit dem Bau von Schaustellergeschäften?“ und „Wer baute was?“, behandelt das nächste Kapitel die verschiedenen Hersteller von Geschäften und deren Geschichte. Die wichtigsten Hersteller werden in Einzelartikeln ausführlich vorgestellt.Ähnlich geht der nächsten Abschnitt, der sich mit den Kirmesmalern befasst, den Fragen nach: „Wer waren die Maler?“, „Welche Ausbildung hatten sie?“ und „Wie sind sie zur Auftragsmalerei für Schausteller gekommen?“. Bekannte Künstler werden mit ihrer Biografie und ihren Werken vorgestellt. Vielfach waren es Maler mit klassischer Ausbildung, die neben ihrer sonstigen Tätigkeit auch die Gestaltung von Schaustellergeschäften ausführten. Teilweise wollten sie jedoch mit den Schaustellerarbeiten nicht in Verbindung gebracht werden und verschwiegen sie deshalb in ihren Lebensläufen oder anderen Publikationen über sich. Beispielhaft sei hier der Maler Fritz Laube genannt, von ihm stammen unter anderem die Bemalungen der Geisterbahn und des Laufgeschäfts Land des Lächelns der Familie Steiger. Einen Großteil seines Gelderwerbs machte die Kirmesmalerei aus, trotzdem ist er in der Öffentlichkeit fast ausschließlich als Tier-, Landschafts- und Kirchenmaler bekannt. Laut seiner Tochter befürchtete er eine Abwertung seiner ernsten Arbeiten und seiner selbst zum Handwerker, wenn bekannt würde, er habe zweckgebundene Dekorationsmalereien angefertigt.
In der Zeit nach 1945 hat sich der Charakter der Schaustellermalerei geändert und sie wurde zunehmend nicht mehr von klassischen Malern, sondern von Designern und Werbegrafikern ausgeführt. Beispielsweise mit der Firma afaw – Atelier für angewandte Werbung, geleitet von Klaus Hriesik, gibt es Künstlerbetriebe, die sich auf die Gestaltung von Schaustellergeschäften spezialisiert haben. Auch in diesem Betrieb bleiben die eigentlich ausführenden Maler im Hintergrund. Es zählt nur das MarketingGesamtkonzept des afaw-Teams. In der gleichen zeitlichen Aufteilung wie der Katalog befasst sich das nächste Kapitel mit der Dekoration der Geschäfte in chronologischer Abfolge. Dabei werden die jeweils besprochenen Stile im kunsthistorischen Zusammenhang der jeweiligen Zeit betrachtet. Während bis zum Zweiten Weltkrieg neubarocke Motive mit Einfluss von Rokoko und Jugendstil vorherrschten, zeigt Frau Dr. Ramus, dass die Zeit danach als Beginn der „Moderne“ in der Dekoration gesehen werden muss. Wie in der Kunst wurden in den 1950er Jahren viele Geschäfte mit abstrakten gegenstandslosen Dekorationen versehen. Gleichzeitig wurden viel Dekors auch von der zunehmenden Amerikanisierung bestimmt. Frau Dr. Ramus zeigt zu allen auf der Kirmes vertretenen Kunstrichtungen ihre Herkunft aus Architektur und bildender Kunst. Der Hauptteil endet mit einem Kapitel zur abschließenden zusammenfassenden kunsthistorischen Betrachtung.Da es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, gibt es zu jedem Kapitel, sowohl im Hauptteil als auch im Katalog, jeweils anhängend ein Abbildungs- und Quellenverzeichnis.
Diese kurze Übersicht über die Themen kann Frau Dr. Ramus‘ Dissertation natürlich in keiner Weise gerecht werden. Zu komplex ist das Thema, zu vielfältig sind die dargestellten Informationen – gespickt mit vielen Randgeschichten und Zitaten. So kann ich nur hoffen, mit meiner kurzen Darstellung Interesse für dieses Buch geweckt zu haben.
Wir können den Wert der vorliegenden Arbeit dabei gar nicht hoch genug schätzen. Erstmals hat sich jemand wissenschaftlich mit der Gesamtheit der in Deutschland gebauten Kirmesgeschäfte auseinandergesetzt. Frau Dr. Ramus hat damit einen Grundstein für die Anerkennung unserer weltweit einzigartigen Kirmeslandschaft als Kulturgut gelegt. Ihr Empfehlungsschreiben begleitet den Antrag zur Aufnahme der Deutschen Kirmes als immaterielles Kulturerbe der UNESCO.
Frau Dr. Margit Ramus, ich möchte Ihnen für diesen wertvollen Beitrag zur Dokumentation unseres so bedeutsamen und immer noch weitgehend übersehenen Kulturgutes Volksfest danken. Ich hoffe sehr, dass Ihre Arbeit dazu beiträgt, der Kirmes endlich die Anerkennung zu verleihen, die sie verdient. Ich bin stolz, von Ihnen als Vereinskollegin sprechen zu können.
Das Buch mit 751 Seiten und ca. 1.300 Abbildungen ist 2013 beim J. P. Bachem Verlag Köln erschienen. Über die Webseite der Autorin (margit-ramus.de) ist es versandkostenfrei und auf Wunsch mit Signatur erhältlich.