Der wahre Wert des Lebens

Ein heißer schwüler Sommertag neigte sich dem Ende. Alexander hatte es sich im kühlen Wohnzimmer bequem gemacht. Anna, seine Frau, verweilte noch im Garten ihres Reihenhauses und goss die Blumen. Die Hitze machte ihrem Herz etwas zu schaffen, deshalb wagte sie sich erst in den Abendstunden hinaus.

In den langen Jahren ihrer glücklichen Ehe waren sie, trotz ihrer kleinen Verhältnisse, zufriedene Leute. Große Sprünge hatte sie wahrlich nie machen können. Alexander war früher Busfahrer bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben, irgendwann hatte ein Jüngerer seinen Platz eingenommen.
Nach einer ziemlichen Durststrecke fand er eine neue Aufgabe als Schulbusfahrer der Grundschule. Die Kleinen sicher und pünktlich jahrein-jahraus zur Schule zu fahren, war ihm zum Mittelpunkt seines Lebens geworden. Er liebte seine Kinder, und die Knirpse mochten den älteren, zuverlässigen, immer gutgelaunten Mann gut leiden. Schon heute litt er unter der Vorstellung, in zwei Jahren pensioniert zu werden und nicht mehr jeden Tag zur Schule zu steuern.

Alexander setzte die Brille auf, nahm Stift und Papier zur Hand, denn in wenigen Minuten würden die Lottozahlen gezogen werden. Mit der linken Hand strich er sich durch seine lichten grauen Haare und gab sich seinen Gedanken hin.
„Einmal im Lotto gewinnen, wessen Wunsch ist das nicht? Einmal reich zu sein, und den Duft der großen weiten Welt in der Nase spüren.“
„Das Ergebnis der heutigen Ziehung lautet: 8  –  9  –  19  – 21  –  35  –  42  –  Zusatzzahl  26.“

Alexander glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können, das Herz schien ihm stehenzubleiben, und eine leichte Röte überzog sein gutmütiges, von vielen Falten durchzogenes Gesicht.
Welche Zahlen hatte die Dame gerade im Fernseher gesagt? — Das konnte doch nicht wahr sein! Winzige Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Die Acht, die Neun und neunzehn, auch einundzwanzig, fünfunddreißig und die Zweiundvierzig, das waren doch seine Zahlen, die er nahezu zwanzig Jahre, Woche für Woche tippte!

„Mein Gott, sechs Richtige im Lotto! Der Traum, den Millionen träumen, ist für ihn und seine Frau nun wahr geworden!“

Wie vom Blitz getroffen blieb er starr und verkrampft in seinem Sessel sitzen. Die Gedanken überschlugen sich. Das Wichtigste erschien ihm, Ruhe zu bewahren, obwohl das Glücksgefühl in ihm brannte.
Anna, seine Anna, würde nach ihren zwei leichten Herzanfällen die Aufregung nicht so einfach verkraften. Er durfte ihr die große Neuigkeit nur schonend beibringen. Er zitterte innerlich und wusste noch nicht, wie er im Moment mit diesem Ereignis alleine fertig werden sollte.
„Nie mehr Schulbus fahren, nie mehr“, durchzuckte es ihn. Seine Kinder würden ihn sicher vermissen.
Eigene Kinder waren ihnen leider nicht beschert, nicht zuletzt deshalb hatte er die Kleinen immer mit besonderer Sorgfalt und Freude in seinem Bus transportiert. Das würde natürlich in Zukunft vorbei sein.
Anna und er würden bei ihrem Alter, das Geld gar nicht mehr alle ausgeben können. Ein herrliches Gefühl durchströmte seinen sich langsam entspannenden Körper.

Es würde wunderbar werden.

Sechs Richtige — wieviel Geld mag es wohl geben?

Er konnte es nur langsam fassen.

Immer hatte sie rechnen und jeden Pfennig zweimal umdrehen müssen, um ihr kleines Häuschen bezahlen zu können. Auf vieles hatte Anna verzichtet, damit sie es im Alter einmal gut haben sollten, und nun flog ihnen das Geld einfach so zu.
Vor seinen geschlossenen Augen stiegen malerische Bilder auf. Anna und er würden Reisen machen. Einmal die Stille über dem weißen Strand an einer azurblauen Bucht genießen. Unter Palmen eine leichte Brise, die vom Atlantik die Mittagshitze milderte, spüren.
Oder durch blühende Wiesen und Wälder spazieren, tief durchatmen und die Seele baumeln lassen.
Ganz hingerissen ließ er seine Gefühle schweifen. Wie schön würde es sein, einfach auszubrechen aus der Enge des Alltags, die einem schon mal den Atem nehmen kann.
Sehnsüchte nach Ferne, weg aus dem Tal, dass bisher seine Welt war, nahmen Besitz von ihm.

Morgen schon — würden sich die Werte des Lebens verschieben.

 „Alexander, warum sitzt du denn im Dunkeln?“ fragte Anna erstaunt, als sie ins Zimmer trat.
Alexander schreckte auf, er hatte sie gar nicht kommen hören.
„Was ist denn? Du siehst aus, als hättest du etwas Schönes geträumt“, schmunzelte sie lächelnd und stellte ihm sein allabendliches Fläschchen Bier auf den Tisch.
„Anna, wo ist eigentlich mein Lottoschein, du hast ihn mir noch nicht zurückgegeben“, fragte Hannes so unauffällig wie möglich. Er bemühte sich, seiner Stimme einen normalen Klang zu geben.
Es fiel ihm schwer, nicht mit der Neuigkeit reinzuplatzen, und er konnte seine Erregung nur schlecht verbergen. Hatte Anna nicht ein wenig die Farbe gewechselt, als er nach dem Schein fragte? — Ach, er sah wohl schon Gespenster.

Als erstes würde er einen Mercedes kaufen, und im Herbst bekam Anna den schönsten und teuersten Pelzmantel, den er auftreiben konnte, durchfuhr es ihn.
Für Anna konnte er natürlich auch einen eigenen Wagen kaufen, aber dann brauchte sie einen Chauffeur, denn sie besaß keinen Führerschein.
Sie würden sich all die schönen Dinge des Lebens kaufen, den höchsten Genuss, reich zu sein, erleben.
Vergessen war im Augenblick ihre kleine harmonische Welt, in der sie viel Freude und Zufriedenheit und das größte Gut, ihre Gesundheit, als besonderes Geschenk Gottes gesehen hatten. Anna hatte zwar ein schwaches Herz, aber bei sorgfältiger Lebensführung, so hatte der Arzt versichert, könne sie hundert Jahre alt werden.

Vielleicht konnte er es ihr doch jetzt schon sagen?
„Anna, wo ist denn der Lottoschein?“ fragte er etwas nervös.
„Alexander, ich …“ Anna zögerte und begann, unruhig im Zimmer hin und her zu wandern.
Alexander war so sehr mit seiner eigenen Unruhe beschäftigt, dass er ihren irritierten Gesichtsausdruck nicht wahrnahm.
„Liebes, bitte, — bleib doch mal stehen, ich muss dir etwas erzählen, es wird dich sehr, sehr glücklich machen.“ Er griff nach ihrer Hand und legte einen Arm um ihre Schultern.
Alexander konnte es einfach nicht für sich behalten.
„Anna, ich habe eine Neuigkeit! Etwas sehr Schönes! Du brauchst dich also nicht aufzuregen. — Denk dir — wir haben im Lotto gewonnen — sechs Richtige!“

Er hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da sackte Anna, seine geliebte Anna, ohnmächtig in seinen Armen zusammen. Er konnte sie gerade noch auffangen. Er legte den bewegungslosen Körper auf das Sofa. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen.
„Anna! Anna! Was ist denn mit dir? Mein Gott, sie stirbt“, schrie er verzweifelt, lief zum Telefon und wählte mit bebenden Fingern der Feuerwehr.
Anschließend eilte er zurück zu seiner Frau. Sie lag immer noch wie leblos in tiefer Ohnmacht. Tränen der Verzweiflung liefen ihm über die Wangen, und der Schmerz schnitt wie ein scharfer Speer in sein Herz.
Er kniete sich vor das Sofa, legte den Arm unter ihren Kopf und streichelte hilflos ihr fahles Gesicht. Die Minuten bis zum Eintreffen des Arztes, erschienen ihm wie eine Ewigkeit.
„Liebes, bitte mach‘ die Augen wieder auf“, flüsterte er ganz nah an ihrem Ohr. „Lieber Gott, ich will den Lottogewinn nicht mehr, was soll ich denn ohne Anna mit dem Geld? Bitte, lieber Gott, lasse sie nicht sterben, sie ist mir doch mehr wert, als aller Reichtum der Welt.“ Die Stille, die über dem abgedunkelten Raum lag, wurde nur von dem leisen, bemitleidenswerten Gemurmel des Mannes unterbrochen, der in diesen Minuten um Jahre gealtert schien.

Plötzlich schlug Anna die Augen auf. Tränen schwammen darin.
„Anna, oh mein Liebes“, stöhnte Alexander auf.
„Alexander“, sie schluchzte, „ich muss dir was beichten. Ich habe den Schein nicht abgegeben. Ich hatte es vergessen, und jetzt wirst du mir sicher nie verzeihen“, stieß sie traurig hervor.
Alexander lachte und weinte gleichzeitig, nun waren es jedoch Tränen der Erleichterung, die ihm unaufhörlich übers Gesicht liefen. Er drückte seine Frau ganz fest an sich.
Du Dummerchen, was ist denn alles Geld der Welt gegen das, was wir zwei besitzen, nämlich uns und unsere Liebe.“

Glücklich hielten sie sich umschlungen.
Es brauchte gar nicht „Morgen“ zu werden, dass sich die Werte seiner Welt verschoben, er hatte die wahren Werte schon heute erkannt.

Und doch war es für einen Augenblick sehr schön gewesen — einmal reich zu sein…