Zwischen Mandelwagen und Bibliothek

MENSCHEN      42 forsch 3/2006 Universität Bonn

Margit Ramus ist die einzige aktive Schaustellerin mit Universitätsabschluss

In der Garage von Margit Ramus hängt ein kleines Holzschild. Darauf steht in eingebrannten Lettern: „Beneide nie die, die seßhaft sind, denn du bist und bleibst ein fahrendes Kind.“

Margit Ramus ist seßhaft. Ihr Einfamilienhaus in Köln-Porz mit der hellen Couchgarnitur und dem gepflegten Garten unterscheidet sich durch nichts von dem ihrer Nachbarn – höchstens vielleicht durch den großen LKW, der in ihrer Einfahrt steht. Der verweist auf das zweite Leben der 55-Jährigen.

Denn Margit Ramus ist auch ein „fahrendes Kind“. Mit ihrem Wagen für gebrannte Mandeln besucht sie jahrein, jahraus Rummelplätze und Weihnachtsmärkte in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Der LKW dient ihr als Transporter, nicht als Unterkunft. Sie fährt Abend für Abend zurück nach Hause oder übernachtet, wenn die Strecke zu weit ist, im Hotel. „Im Herzen bin ich Schaustellerin“, sagt sie mit leicht Kölner Dialekt.

„Wenn ich auf einer Kirmes bin, denke ich zwar manchmal: Was für ein schrecklicher Beruf. Aber ich kann davon nicht lassen. Irgendetwas fesselt mich, vielleicht der Geruch oder die Musik. Andererseits gehöre ich nicht mehr richtig dazu.“

Margit Ramus ist die einzige Schaustellerin in Deutschland mit Universitätsabschluss. Sie hat Kunstgeschichte, Germanistik und Geschichte an der Universität Bonn studiert. In ihrer Magisterarbeit geht es um „Hänge- und Bodenkarussells“ in Deutschland. Das daraus entstandene Buch hat sich mehr als 600 Mal verkauft – unter anderem nach Liechtenstein, Italien, Holland, England, in die Schweiz die USA. Im Mai wurde sie ins Pariser Schaustellermuseum eingeladen, um dort ihre Arbeit vorzustellen. Und demnächst trifft sie sich mit einer Gruppe US-amerikanischer Historiker, die im Rahmen einer Exkursion zwei Schaustellermuseen in Essen und Köln besuchen. Nun will sie promovieren, über „Dekorationen im Schaustellergewerbe“ – ein völlig unbeachtetes Thema, wie sie sagt. Dabei seien viele Verzierungen von hervorragenden Malern und Stuckateuren angefertigt worden. „Kennen Sie den Kirchenmaler Fritz Laube? Der hat auch mehr als 100 Schaustellergeschäfte bemalt. In seiner Biografie taucht das komischerweise gar nicht auf.“

Sie lächelt. „Der hat sich geschämt.“

Das stört sie. Margit Ramus bricht eine Lanze für das „fahrende Volk“: „Schausteller sind mittelständische Unternehmen“, sagt sie und lobt den starken Familienzusammenhalt:

„Sie erziehen ihren Nachwuchs zu Höflichkeit und Respekt. Dass Schaustellerkinder ihre Eltern in ein Altenheim geben, kommt so gut wie gar nicht vor.“

6.000 Schausteller-Familien gibt es in Deutschland; dem Namen nach kennt man sich. Alle hätten einen festen Wohnsitz, unter dem sie gemeldet seien, alle würden regelmäßig ihre Steuern zahlen, Hartz IV-Empfänger gebe es kaum, „zumindest kenne ich keinen.“ Und in den mobilen Wohnungen sehe es auch nicht anders aus als in anderer Leute Häuser, betont sie. „Sehen Sie?“ sagt sie und zeigt ein Foto vom Wohnwagen ihres Bruders, im Hintergrund eine Couch, die der von Margit Ramus verblüffend ähnelt. „Mich würde interessieren, was Sie von meiner Wohnung erwartet hatten – schließlich wollten auch Sie mich hier treffen und nicht an der Universität.“

Ramus stammt aus einer alteingesessenen Schaustellerfamilie; bereits ihre Urgroßeltern übten diesen Beruf aus. Als Margit schulpflichtig wurde, gaben ihre Eltern sie zu einer Pflegefamilie, um ihr einen regelmäßigen Schulbesuch zu ermöglichen. Im Winter lebte sie weiterhin bei ihren Eltern – die Kirmes-Saison ging nur von April bis Anfang November. Nach der Volksschule wechselte sie auf ein Internat in Hersel. Dreieinhalb Jahre später endete ihre Schulzeit, was sie später oft bedauerte. „Doch ich bekam eine kleine Schwester und wurde zu Hause gebraucht.“ In den 60er Jahren galt im traditionell konservativen Schausteller-Milieu noch eine sehr klassische Rollenverteilung. „Die Aufgaben der Frau waren Kasse, Kinder, Kochen“, sagt sie. „Heute sind die Schaustellerinnen viel emanzipierter.“

Im August 1995 beschloss Margit Ramus, wieder die Schulbank zu drücken – mit 44 Jahren. „Ich hatte zwei Vorstellungsgespräche an Privatschulen, einmal in Godesberg und einmal in Köln“, erinnert sie sich. „Die Schulleiterin in Köln hat mich völlig entmutigt: ‚Die ganzen Fremdsprachen und dazu noch Mathematik, das schaffen Sie nie, in Ihrem Alter’, verkündete sie mir.“ Auch ihre Geschwister haben sie damals für verrückt erklärt. Sie zögert. „Bildung wird in unserer Branche aus meiner Sicht häufig nicht wichtig genug genommen“, sagt sie dann vorsichtig. „Damit meine ich nicht, dass Schausteller ungebildet sind“, ergänzt sie schnell.

Nach drei Jahren Doppelbelastung – vormittags Unterricht in Godesberg, zusammen mit zehn Jungs und zwei Mädchen, nachmittags am Mandelstand auf irgendeinem Jahrmarkt in 25 oder 50 Kilometern Entfernung – machte sie das Abitur und nahm kurz darauf ihr Studium an der Uni Bonn auf. „Für mich war sehr vieles Neuland“, sagt sie. „Meine Kommilitonen hatten zum Teil ein viel größeres Hintergrundwissen.“ Dennoch zog sie ihr Studium durch, auch als sie im Jahr 2000 an Krebs erkrankte und sich einer Chemotherapie unterziehen musste. Irgendwann saß sie in einer Vorlesung und dachte sich: „Ohne Magister lässt man dich dort oben nicht rein.“ Die Idee zu ihrer Abschlussarbeit verdankt sie ihrer Betreuerin

Professor Dr. Hiltrud Kier. „Sie hat mich gefragt: Frau Ramus, warum nehmen Sie nicht etwas aus Ihrem Metier?“ In ihrer „anderen Welt“ hat man ihren Bildungshunger nie so recht verstanden. Heute fühlt sie sich dort daher oft nicht mehr richtig heimisch. „Manchmal fehlen einfach gemeinsame Interessen und Gesprächsthemen“, bedauert sie. „Der Preis ist hoch.“ Als ihr Bruder hörte, dass sie nun noch promovieren wolle, sagte er nur: „Du bist verrückt.“ „Das habe ich in den letzten zehn Jahren so häufig von dir gehört“, entgegnete sie ihm, „und soll ich dir was sagen: Es ist schön, verrückt zu sein!“

FL/FORSCH